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Sýkoras Malerei als natura naturans

Ich sehe dieses Bild immer noch vor mir: Die Uferwiese an der Flusswindung, das gegenüberliegende Ufer gesäumt von hohen Pappeln, sonnendurchflutet. Der Maler stellt seine Staffelei schräg zum Ufer auf, er ist in dieser Aufgabe geübt, er befestigt die frisch aufgezogene Leinwand an der Staffelei und schon in dem Augenblick, in dem er die Pinsel, die Gefäße mit Terpentin, die Farbtuben und die Palette aus der alten, speckigen Tasche nimmt, die er am rechten Bein der Staffelei abgestellt hat, schaut er ungeduldig über den oberen Rand des Keilrahmens der provozierend weißen Leinwand. Als würde er diese Landschaft zum ersten Mal sehen, als würde er zum ersten Mal vor der Aufgabe stehen, die Fläche der Leinwand mit der Diagonale des Flusses zu durchtrennen und so von der Fläche in den Raum vorzustoßen. An die rechte untere Halterung für die Leinwand hängt er einen Lappen an die Staffelei; auch das Messer, das für gewöhnlich die Spachtel ersetzt, legt er so bereit, dass es stets zur Hand ist.

Dann breitet sich der Duft von Terpentin, Öl und Farben aus. Auf der Palette, auf die er zuvor Farbhäufchen gedrückt hat (vor allem weiß), entsteht durch ihre Vermischung ein schwaches, mattes Grau. Die Leinwand ist immer noch weiß. Die Blicke über ihren oberen Rand werden häufiger, je mehr das Grau auf der Palette den gewünschten Ton annimmt. Bis plötzlich das Kratzen oder Rascheln des Pinsels zu hören ist, wenn er über das Gewebe gezogen wird, um das Chiaroscuro bzw. eigentlich die Grisaille der Untermalung zu schaffen. An manchen Stellen bedeckt sie nur schwach die Grundierung, an anderen fällt sie durch dickeres Auftragen dichter aus, hier und da erfordert sie das Anmischen eines dunkleren Farbtons. Der Maler ist in diesen Momenten selbst die Natur, er kreiert ihre Geschichte, gräbt Flussbetten, modelliert tektonische Brüche, bestimmt das Hervorbrechen der Vegetation vorher. Das Bild ist nun in seinen entscheidenden Zügen entworfen. Man könnte sagen: Sein Wesen, das Wesen der gesehenen Landschaft wurde auf die Leinwand gebracht.

Diese Behauptung ist allerdings nicht ganz zutreffend. Es ist erst die erste Runde des Ringkampfs entschieden, den das Malen eines Bildes darstellt. Dieser Kampf geht weiter: Die durch die Grisaille vorbestimmte Modellierung ringt nun mit der farbigen Modellierung. Nicht selten folgt den Pinselstrichen das hastige Wischen des terpentingetränkten Lappens. Nicht selten ist das Kratzen des Messers zu hören. Über die kaum getrockneten Farben werden Schattierungen gelegt, die für die bisherige Entwicklung des Gemäldes beispielhaft sind. Dort, wo Details herausgearbeitet wurden, wird die Form holzschnittartiger wiedergegeben und umgekehrt. Das alles ist ein Prozess unablässiger Revisionen und Korrekturen des anfänglichen Entwurfs: Er entspringt dem Konflikt zwischen dem Gesehenen und dem Entworfenen, dem ständigen Ausgleich von Sehen und Darstellen, den unterschiedlichen Ansprüchen, die auf der einen Seite von dem Bedürfnis etwas abzubilden und auf der anderen vom verwendeten Format, vom Material und von der Technik gestellt werden.

Diese feuilletonistische Einleitung war notwendig, um einerseits die Faszination für die Natur aufzuzeigen, die nicht nur eine zeitgemäße Formel war, die trotzig von der französischen postimpressionistischen Malerei abgeleitet wurde, als Protest gegen den aufgezwungenen „sozialistischen“ Realismus der fünfziger Jahre, sondern sie bildete und bildet die Grundlage für Sýkoras gesamtes künstlerisches Schaffen; zum anderen diente die emotionale Erzählung zugleich als Exposition zu einem tiefer reichenden theoretischen Problem, nämlich der bereits erwähnten Beziehung zwischen Sehen und Entwerfen, die wohl die Genese eines jeden Gemäldes kennzeichnet. Bei Sýkora ist sie jedoch von grundlegender Bedeutung, denn es sind die Veränderungen dieser Beziehung, die die überraschende Entwicklung des Malers vorzeichnen.

Einen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete sicherlich auch die Zeit, deren allgemeine Tendenz, die vom Misstrauen gegenüber der perspektivischen Darstellung und einer Affinität zur flächigen Bildgestaltung gekennzeichnet war, die nach einer neuen räumlichen Organisation verlangte, sich in der gesamten Bandbreite der bildenden Kunst der Tschechoslowakei am Ende der fünfziger Jahre widerspiegelte.

 

Und hier beginnt die ungewöhnliche Geschichte von Sýkoras Kampf mit dem Engel, die Geschichte des Malers, der die Natur leidenschaftlich liebte, sie aber aufgeben musste, um den Ansprüchen der Malerei gerecht zu werden, und sie so paradoxerweise wiederfand, nun aber im „befreiten“ Gemälde selbst.

Das Ende der 50er und der Anfang 60er Jahre stehen bei Zdeněk Sýkora im Zeichen des bisher wenig beachteten Zyklus „Gärten“. Dabei handelt es sich nicht mehr um größere Landschaftspartien. Der Landschaftsausschnitt wird in der Regel von schräg oben präsentiert (das entspricht sehr dem Bonnard’schen Blick in Innenräume, vor allem in Badezimmer) und schon allein durch diese Perspektive verliert das Thema an Räumlichkeit. Als dann die Petersburger Matisse-Lektion hinzutritt, nimmt der Prozess Fahrt auf, den Sýkora als „Suche nach der Farbe“ bezeichnet: Die Farbflächen, die ursprünglich Blumenbeete, die dunkle Spiegelfläche von Wasserfässern und schwarze Zäune darstellten, beginnen plötzlich auf der Bildfläche ein Eigenleben zu führen und stellen auch ihre eigenen Ansprüche. Das eine Mal sind sie nicht zufrieden mit ihrem Nachbarn, was dessen Form angeht, ein andermal sind sie unzufrieden mit seiner Farbe, anfangs zumindest im Hinblick auf die Schattierung. Häufige Übermalungen zeugen davon, dass mehr um ein ausgewogenes Bild gerungen wird als um die Darstellung von etwas außerhalb von ihm Liegendem; diese Pentimenti lassen sich deshalb wohl nicht als Partizipation an der damaligen Vorliebe für stark texturierte Farbpasten erklären (die eher von einer existentiellen Desillusionierung getragen war als von der Freude an der Natur und der Malerei). Im Gegenteil. Anhand des weiteren Verlaufs dieses Prozesses der „Suche nach der Farbe“ kann man nachvollziehen, wie die Konsistenz der Pasten dünner und die Anzahl der geometrischen Farbflächen immer kleiner wurde, die sich bereits spontan von den französischen Lehrmeistern entfernten und die offenbar auf der Suche nach dem Gleichgewicht unbewusst Prinzipien verfolgten, die eher für die niederländische Kunstrichtung „De Stijl“ typisch sind. Am Ende des gesamten Prozesses stehen solche Bilder wie zum Beispiel der „Rote Pfeil“ (1962): Die spontane Entwicklung, die durch das Bemühen um eine möglichst wirkungsvolle Darstellung der wahrgenommenen Natur hervorgerufen wurde, gelangte – da sie die sich immer stärker durchsetzenden Gesetzmäßigkeiten der flächigen Bildgestaltung respektieren musste – zu einer Abstraktion, die von der Natur weit entfernt war. Das muss für Zdeněk Sýkora ein seltsamer Zustand gewesen sein: Unter seinen Händen entstand etwas, das dem Prucha’schen Ideal der leidenschaftlichen Koexistenz zwischen Maler und Natur vollkommen fern stand.

Unter der Voraussetzung, dass es der Maler nicht als Sackgasse betrachtete, gab es keinen Weg zurück. Ende 1962, Anfang 1963 begann in Sýkoras Atelier in der Husova-Straße in Louny ein Bild zu entstehen, das gemessen an den bis dahin in der Malerei üblichen Gepflogenheiten entweder für verrückt oder aber für Dekorativismus gehalten werden konnte: die „Graue Struktur“. Vor den staunenden Augen des Künstlers entstand ein Bild, das alle bisherigen kompositorischen Verfahren negierte, denn es wandte sich, offenbar ohne dass es ihm damals bewusst war, Prinzipien zu, mit denen sich ein Teilgebiet der Mathematik namens Topologie befasst. In der „Grauen Struktur“ ist jener entscheidende Punkt zu suchen, an dem die rein künstlerische Suche spontan mit einem Ansatz der abstraktesten unter den Naturwissenschaften zusammentraf und von dem sich dann eine Evolution künstlerischer Lösungen ableiten konnte, bei denen man – trotz ihrer Abstraktheit und somit scheinbaren Naturferne – von einer Homologie zwischen Malerei und Wirklichkeit (nicht nur der Natur) sprechen kann (wie es im ethnologischen Kontext Claude Lévi-Strauss getan hat).

Sýkora nutzte also bei seiner „Grauen Struktur“ die Möglichkeiten, die in Klees Vorlesungen am Bauhaus angedeutet worden waren: nämlich die strukturelle Anordnung eines einzelnen Elements, die durch seine Wiederholung, das daraus folgende Raster und verschiedene Positionen des Elements im Raster bestimmt wird. Für seine erste Struktur, die ihren Namen aufgrund der verwendeten Farben erhielt (zwei Grautöne, schwarz und weiß), wählte er ein relativ kompliziertes rechteckiges Element, das im Inneren durch zwei einander teilweise überdeckende gleichschenklige Dreiecke untergliedert wird, sodass fünf Flächen entstehen. „Bei der Arbeit bemühte ich mich darum, dass sich die Aufteilung von Grau, Schwarz und Weiß so wenig wie möglich wiederholt. Ich erwartete nichts davon, aber ich war von der Arbeit daran regelrecht besessen. Das Ergebnis überwältigte mich. Kurze Zeit wusste ich nicht, was ich damit anfangen soll, und ich machte weiter mit der großflächigen Geometrie, schloss die begonnenen Sachen aber nicht mehr ab. Die Entscheidung war gefallen.“ In der „Grauen Struktur“ ist tatsächlich kaum ein sich wiederholendes Element zu finden, egal ob man die Wiederholungen in Bezug auf horizontal oder vertikal benachbarte Elemente betrachtet. In der tschechischen Kunst kommt damit zum ersten Mal der sog. systemische Ansatz zum Tragen; die Struktur beruht immer auf einer bestimmten Regel, die in diesem Fall in der Wiederholung eines bestimmten Elements besteht, die so erfolgt, dass die farbliche Anordnung im Inneren soweit möglich nie gleich ist. Es ging also paradoxerweise um die Wiederholung ein- und derselben Form, während ihre farbliche Anordnung bezogen auf die benachbarten Elemente nicht wiederholt werden sollte.

 

Schon in der Zeit, in der diese und die darauffolgenden Strukturen entstanden, war klar, dass sie eine Art Modell der Wirklichkeit darstellen. Dabei faszinierte ihr rationaler Aufbau, den der Künstler schon bald als Programm auffasste, und er zögerte nicht, dafür den Computer zu verwenden (als Hilfsmittel, nicht als grundlegende künstlerische Methode). In diesem Kontext war Sýkora der zeitgenössischen Strömung der konstruktiven Kunst zuzuordnen und im internationalen Maßstab den „Neuen Tendenzen“ (für die damals in Nürnberg und Zagreb regelmäßig Ausstellungen stattfanden). Es handelte sich um eine heterogene Bewegung, unter deren Dach sich viel zeitgenössisches „Treibgut“ sammelte (Op-Art und verschiedenste Formen kinetischer Kunst hatten eine große Anziehungskraft und sorgten für Verwirrung), ihr gehörten aber auch große Persönlichkeiten an, deren weitere Entwicklung allerdings über die eng gefassten Koordinaten der Gruppenprogramme hinausreichte.

Zu Letzteren gehörte auch Zdeněk Sýkora. Die entscheidende Wende in seinem Schaffen, die der bahnbrechenden „Grauen Struktur“ folgte, wurde schon oft beschrieben. Indem er den systemischen bzw. strukturellen Ansatz konsequent künstlerisch zu Ende dachte, ging Sýkora weit über die Grenzen der geometrisierenden Rationalität hinaus und gelangte in die absolut freie Sphäre der Linienbilder, die die Reversibilität und Zusammengehörigkeit von Zufall und Ordnung bestätigen, keine einseitig rationalen Raster mehr benötigen und sich nach den Prinzipien der schöpferischen Natur richten. Der Entwurf bringt hier – wie am Anfang, in der postimpressionistischen Landschaftsmalerei, allerdings auf einer anderen Ebene – die Essenz der Wirklichkeit, die Essenz des Lebens auf die Leinwand.

Ist das eine Metapher? Ja und nein: Es ist eine schwer beweisbare Hypothese. Es sei gestattet, eine Analogie aus einem Bereich zu Hilfe zu nehmen, der im Übrigen Sýkoras Malerei sehr nahe steht – aus dem Bereich der ganzheitlichen Psychologie. Wenn Rudolf Arnheim beweisen soll, dass die kompositorischen Prinzipien, die er aus seiner experimentellen Praxis ableitete und die er in seiner Kompositionslehre zusammenfasste, immer dann angewendet werden, „wenn der Künstler oder Designer eine visuelle Form schafft“, geht er von der Behauptung aus, dass die „Gesetzmäßigkeiten der Physiologie eine besondere Anwendung der allgemeinen Naturgesetze der Physik sind“ und er führt das architektonische Werk Pier Luigi Nervis (Wollfabrik Gatti in Rom aus den Jahren 1951–53) als Beispiel dafür an, dass das verwendete statische System seinem Kompositionssystem entspricht. Arnheims Überlegungen stützen die Grundannahme dieser Abhandlung, dass nämlich die konsequente Verfolgung der visuellen Probleme in eine Übereinstimmung von künstlerischem Bestreben und der Ausrichtung der, sagen wir, allgemeinen menschlichen schöpferischen Tätigkeiten münden und etwas über das Wesen unserer Welt aussagen muss. Die Tatsache, dass Sýkora insbesondere in den Linienbildern über Arnheims Streben nach der Vollkommenheit der Form, nach einem „gelungenen künstlerischen Werk“ hinausgeht, indem er den Weg hin zu einer durch nichts begrenzten Freiheit der Form, der Farbe, der Richtung und der Länge des Elements einschlägt, bestätigt nur meine Überzeugung von der semantischen Homologie seines Schaffens mit den anderen Bereichen der Welterkenntnis und unterstreicht die Einzigartigkeit von Sýkoras wunderbar einseitigem Werk.

Josef Hlaváček, 1995

Sýkoras Malerei als natura naturans

In: Katalog „Zdeněk Sýkora Retrospektiva“ Galerie hlavního města Prahy, 1995
Originaltitel: Sýkorovo malování jako natura naturans
Autor: Josef Hlaváček, 1995
Übersetzung: Angela Lindner, 2021
Thema: Werk