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Es wäre ratsam, alle kontrastierenden Grenzziehungen zwischen subjektivem und objektivem Schaffen zu eliminieren, weil diese beiden Prozesse parallel ablaufen und nicht voneinander getrennt werden können. Obwohl ich bei meiner Arbeit Systeme verwende, sind sie paradoxerweise das Ergebnis meiner Intuition.
ZS, 2006
Die Entscheidungen über ein Bild in erster Linie intuitiv zu treffen, war etwas, das Sýkora Anfang der sechziger Jahre hinter sich ließ, um diese Vorgehensweise bei den geometrischen Bildern durch das erste rational bedingte System zu ersetzen. An die Stelle des geschlossenen Systems, bei dem nach wie vor der Künstler über die Komposition entschied, trat schon bald das erste offene System, das man nur in Gang setzen musste und dann endlos fortführen konnte. Das kombinatorische Prinzip, auf dem die „Strukturen“ beruhten, löste die traditionelle intuitive Komposition, die künstlerischen Erfahrungen und Konventionen ab. Auch bei den „Linien“ arbeitet er weiter mit dem offenen System, er hob lediglich einige Beschränkungen auf und ersetzte das Programmieren durch den Zufall.
Wenn wir einige Bilder aus den einzelnen Schaffensperioden Sýkoras der letzten fünfzig Jahre, von den „Gärten“ bis zu den „Linien“, auswählen und sie mit den Augen eines Laien betrachten, ohne zu wissen, welches konkrete System dahinter steckt oder auch ob sie nur nach Gefühl gemalt sind, werden wir wahrscheinlich in vielen Fällen nicht in der Lage sein, die programmierten Arbeiten von denen, die auf dem Zufall beruhen, die rational konzipierten Werke von den nach Gefühl komponierten zu unterscheiden. Höchstwahrscheinlich wären wir nicht einmal in der Lage, sie zeitlich einzuordnen. Schließlich halten bis heute viele seine „Strukturen“ theoretisch für ein Werk des Zufalls, die Linienbilder für ein Produkt des Computers und seine Farbflecken aus den neunziger Jahren für frühe abstrakte Arbeiten. Trotzdem werden seine Bilder gleichzeitig vom selben Personenkreis bewundert.
Sýkora selbst hielt die konkreten Systeme nicht für wesentlich, ihn interessierte nur das Ergebnis, das autonome Werk. Es ist immer dasselbe Grundthema, das ihm sein Leben lang hilft, sein Wirklichkeitsempfinden wiederzugeben. Es ist auch nach wie vor dieselbe Besessenheit, die ihm die Kraft gibt, sein eigenes System immer weiter zu vervollkommnen, mehrere Monate mit der anspruchsvollen Gestaltung eines Bildes zu verbringen, das er nach Ansicht vieler genauso gut auf einem Großformatdrucker hätte ausdrucken können. Er ist aber allem und häufig auch allen zum Trotz immer ein Maler geblieben. In seiner Kunst gibt es kein Kalkül, sie ist eine lebenslange Arbeit auf etwas hin, nicht gegen etwas, eine unmittelbare und freudige Ergebenheit dem selbstgewählten Schicksal gegenüber.
Die bewundernswerte Kompaktheit seines gesamten Werks ist das glückliche Ergebnis einer kontinuierlichen Herangehensweise. Jedes Bild erwächst unmittelbar aus der Arbeit am vorhergehenden Werk, jedes neue Gemälde zeigt weitere Möglichkeiten auf, trägt aber gleichzeitig einen Teil des Erbes seiner Vorläufer in sich. Die Erfahrungen aus der Periode der „Gärten“ kamen sowohl beim Definieren der Regeln für die „Strukturen“ als auch bei der Wahl der Sujets für die Linienbilder zum Tragen. Der Grund für die Geschlossenheit seines Werks ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit sehr allgemeinen Fragen, die schon am Beginn seiner zielbewussten künstlerischen Entwicklung gestellt wurden.
Sein rationales System gebraucht er intuitiv, das Ergebnis der Anwendung einer rationalen Methode ist immer eine bestimmte Emotion – ein Bild, das nichts anderes ist als es selbst. Trotzdem oder gerade deswegen findet er darin das Echo seiner existenziellen Gefühle wieder: der Unbegreiflichkeit der Welt, der Unklarheit, was menschliche Existenz bedeutet, des Unendlichen. (Anm. 1) "Je mehr ich mir wünsche, dass meine Bilder nur sind, was sie sind, desto mehr sind sie alles.“ (Anm. 2)
Gerade das Verständnis des Systems als Ergebnis der künstlerischen Intuition ist für Sýkora von grundlegender Bedeutung – er benutzt die Systeme nicht mechanisch, er illustriert keine theoretischen Probleme, er ist immer um die Umsetzung der eigenen Bildvorstellung, um die Annäherung an eine bestimmte durchlebte Emotion bemüht. Mithilfe der Systeme versucht er das, was er erlebt, was er fühlt, mit dem, was er malt, in Einklang zu bringen. Sein Wirklichkeitsempfinden, sein ganzes Leben spiegelt sich in seinen Bildern wider, obschon sie aufgrund seiner eigenen Entscheidung von ihm in hohem Maße unabhängig sind.
In den Kontext der späten „Gärten“, „Strukturen“ und „Linien“ gehören auch seine intuitiv komponierten Bilder aus den Farbresten, die in den achtziger und neunziger Jahren in seinem Atelier bei der Arbeit an den „Linien“ anfielen. Diese Bilder, die er selbst als „Flecken“ bezeichnet, sind ein Beleg für seinen durchgängig dialektischen Zugang zur Malerei, in der sich jeweils der rationale und der emotionale Teil ununterscheidbar gegenseitig durchdringen. Die „Flecken“ sind aber mehr als nur ein erholsames Hobby. Sie sind die Fortsetzung der intuitiven Seite seines Schaffens. Während er Mitte der sechziger Jahre in seiner freien Landschaftsmalerei, die er parallel zur Arbeit an den „Strukturen“ (und später an den „Linien“) weiter betrieb, formal in die Zeit vor den „Gärten“ zurückkehrte, knüpfen die „Flecken“ eher an die letzte Phase der „Gärten“ an. Manche Farbflecke sind nur leicht aufgeworfen, andere tragen, wie die späten „Gärten“, die Spuren mehrmaliger Übermalung. Auch in ihrem Fall verwendet er für die Modifizierung der farblichen Beziehungen neben dem Pinsel auch die Spachtel. Das Bild „Flecken“, 1992, 100 x100 cm, harrte mehrere Jahre lang im Atelier aus und änderte mehrmals völlig sein Aussehen, bevor es der Vorstellung des Malers von einer ausgewogenen Komposition entsprach. Das Bild wurde während dieser Zeit sogar mehrmals gedreht, seine endgültige Ausrichtung wurde erst kurz vor der Signierung festgelegt. Ein anderes Bild brauchte auf diese Weise sogar ganze neun Jahre für seine Entstehung. Einige Fleckenbilder wiegen ähnlich wie die Kompositionen aus den sechziger Jahren sogar mehrere Kilo, unter ihrer endgültigen Oberfläche verbergen sich oft mehrere ebenso gute Kompositionen (wie die Fotos aus dem Atelier belegen), mitunter verschwand darunter sogar das komplette Landschaftsmotiv eines früheren, in der Natur gemalten Bildes. Es gibt auch Bilder, mit denen er auch nach ihrer Vollendung noch nicht fertig war und an denen er direkt vor den Augen ihrer neuen Eigentümer noch Änderungen vornahm. Das ist ein Beleg für den spontanen und leidenschaftlichen Zugang zur Malerei, den er sich sein ganzes Leben lang bewahrt hat. In der Malerei war für ihn nichts vollendet, es war ein sich ständig vollziehender Prozess, an dem man nur teilnehmen und von dem man nur flüchtige Aufzeichnungen autonomer Vorgänge, die außerhalb unserer Kontrolle und unseres Verstehens stattfinden, festhalten kann.
Einen interessanten direkten Zusammenhang zwischen den „Flecken“ und der künstlerischen Hauptlinie belegen mehrere parallele Versuche, das Flächenproblem mithilfe eines Liniensystems zu lösen. In einem seiner Arbeitshefte sind mehrere Skizzen für eine mögliche Lösung vom Beginn der neunziger Jahre zu finden. Die hier angedeutete Richtung verfolgte Sýkora am Ende nicht weiter und favorisierte stattdessen eine einfachere Methode. Das Ergebnis sind zum Beispiel die Bilder „Linien Nr. 128“ und „Linien Nr. 130“, bei denen er geschlossene Farbflächen erzielte, indem er die Ränder der Linie nicht, wie es bis dahin gewesen war, parallel auf der Fläche verlaufen ließ, sondern auf einer eigenen Bahn, die einer anderen Sequenz zufälliger Zahlen folgte.
Das Interesse an solchen gestalterischen Problemen ist schon früher auch in den polychromen Strukturen zu erkennen, und besonders in den vergrößerten Details der Makrostrukturen, z. B. Farbige Makrostruktur, 1972, 150 x 150 cm. Eine andere visuelle Parallele zu den „Flecken“ könnten auch die Nulllinien, ein Extremfall der Anwendung des Liniensystems – z. B. Linien Nr. 48, 1987, 150 x150 cm, oder die Bilder mit den starken Linien sein – z. B. Linien Nr. 210, 2002, 200 x 200 cm.
Die „Flecken“ kann man als wichtige Ergänzung zu Sýkoras rationalem Ansatz betrachten, vielleicht sogar als Essenz seiner künstlerischen Haltung. Sie wurden zum eigenen Vergnügen gemalt (obwohl er es sich auch hier in nichts leichter macht), neben der oft anspruchsvollen Erfüllung der eigenen komplizierten Vorgaben beim Malen der „Linien“. Alle seine Bilder entspringen ein und derselben Seele, beide Malweisen nähern sich auf unterschiedliche Weise derselben Erkenntnis. Übrigens liegt nach Ansicht Sýkoras die Beziehung zwischen Rationalem und Emotionalem in der Natur der menschlichen Psyche, in der Kunst sind für ihn immer beide Elemente vorhanden, es geht nur um ihre gegenseitigen Proportionen. (Anm. 3) Auch in seiner Arbeit ist ihr gegenseitiges Verhältnis unterschiedlich, es ist schwierig, das eine vom anderen zu trennen.
Versuchen wir doch, uns einmal vom Ballast des eigenen Denkens, der uns mitunter am Sehen hindert, zu befreien. An Sýkoras Bildern als solchen ist nichts Kompliziertes, Chiffriertes, sie sind gleichermaßen spontan wie durchdacht. Ähnlich wie die Musik sind sie jedem unmittelbar zugänglich, der ohne Vorurteile an sie herantritt. Für ihre Rezeption braucht es keine Anleitung und keinen Schlüssel. Auf dem Weg zu ihrer Bedeutung muss man keinen Geheimcode knacken, ihre Bedeutung sind nämlich sie selbst, mehr nicht. Sýkora konstruiert keinen Inhalt, sondern Formen. Der Inhalt ist eine Qualität des jeweiligen Betrachters, analog führt der Weg zu einer höheren Ordnung nicht nur über das Bemühen, sie zu verstehen, sondern man kann sich ihr auch auf der intuitiven, emotionalen Ebene, nähern. Zdeněk Sýkora vertritt in dieser Sache eine ganz einfache Sicht: „Ich habe das Gefühl, immerzu dasselbe zu tun, dasselbe zum Ausdruck zu bringen – mein Erstaunen über die Natur, meine Lebensfreude.“ (Anm. 4)
Anm. 1: Vítek Čapek, Rozhovor se Zdeňkem Sýkorou, 1986, in: Zdeněk Sýkora. Rozhovory, Gallery, Praha 2009, S. 92.
Anm. 2: Zitiert nach: Hans-Peter-Riese, Představa obrazu a systém – význam systému a systematičnosti v díle Zdeňka Sýkory, in: Zdeněk Sýkora. Retrospektiva 1945–95. GHMP, Praha 1995, S. 26.
Anm. 4: Vítek Čapek, Rozhovor se Zdeňkem Sýkorou, 1986, in: Zdeněk Sýkora. Rozhovory, Gallery, Praha 2009, S. 78.
Anm. 5: Transkription des aufgenommenen Materials zur Fernsehdokumentation Zdeněk Sýkora aus dem Zyklus „Europäer“, Tschechisches Fernsehen, 2001, Archiv LZS.