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Die Linienbilder sind kein Computerprogramm

Bei der Feier des 60. Geburtstags von Heinz Teufel in dessen Galerie, Mahlberg 1996, von links: Hans-Peter Riese, Wilhelm Müller, Christoph Freimann, Andreas Brandt, Zdeněk Sýkora, Manfred Mohr, Heinz Teufel, Horst Bartnig, sitzend: Michaela Riese, Anette Teufel-Habbel, Foto (c) Barbara Klemm, Archiv ZS

Manchmal scheint es sinnvoll, den theoretischen Reflexionen über einen Künstler eine Anekdote voranzustellen: Vor 25 Jahren wurde ich von einer Galerie, die Zdeněk Sýkora vertrat, gebeten, einen Katalogtext zu verfassen. Ich überlegte mir, dass es vielleicht an der Zeit sei zu untersuchen, ob den Bildern ein Computerprogramm zugrunde liegt oder in welcher Weise sonst der Computer genutzt wurde. Nach meiner Auffassung war es der erste Text, der diese Dimension der Kunst von Sýkora detailliert beschrieben hat.

Zu meiner nicht geringen Überraschung lehnte Zdeněk den Text ab und veranlasste seinen Galeristen Heinz Teufel, ihn nicht im Katalog zu veröffentlichen. Ich konnte mir einige Zeit keinen Reim auf diese Entscheidung meines Freundes machen. Als wir uns dann wieder trafen, gab Zdeněk eine knappe, aber nachhaltige Erklärung zu seiner Ablehnung. Er habe es satt, immer wieder auf das Computerprogramm reduziert zu werden. Er sei schließlich Maler und kein Computerkünstler. Und wer das in seinen Bildern nicht sehe, der habe nichts verstanden.

Ich glaube, damit ist ein wesentlicher Punkt angesprochen, weshalb die Rezeption des Werkes von Sýkora bis heute unbefriedigend geblieben ist. Ein unbefangener Betrachter der Linienbilder könnte auch zu dem Ergebnis kommen, sie seien das Resultat eines freien, oft expressiven Umgangs mit farbigen Linien. Sýkora, das vermitteln seine Bilder, war ein höchst vitaler Maler, der vor einem expressiven Ausdruck seiner Bilder nicht zurückschreckte. Das allerdings war nicht in allen Werkphasen so ausgeprägt wie in den Linienbildern. Man muss deshalb die Entwicklung des gesamten Werkes, seinen ausgeprägten Prozesscharakter, ins Auge fassen, um einerseits die Vitalität dieser Malerei zu begreifen, andererseits aber auch den Computerhintergrund würdigen und richtig einordnen zu können.

In den sechzigern und zu Beginn der siebziger Jahre war Sýkora zwar in Prager Künstlerkreisen eine bekannte Figur, aber er wohnte in Louny, etwa sechzig Kilometer von Prag entfernt, und er wurde deshalb von den gelegentlich arroganten Prager Kollegen nicht so ganz als einer der ihren angesehen. Sprach man über seine Malerei – sehr rational anmutende Strukturbilder in dieser Zeit –, so bekam man manchmal zu hören, dies sei gar nicht seine eigentliche Kunst, vielmehr male Sýkora nach wie vor Landschaften. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich ihn darauf angesprochen habe. Er nahm mich einfach wortlos bei der Hand und führte mich in seine Garage. Ich konnte es damals kaum glauben, aber tatsächlich hingen hier diese Landschafts- und auch sogenannte Gartenbilder an der Wand. Sie wurden zwar in verschiedenen Ausstellungen gezeigt, aber wenig von der Öffentlichkeit registriert, während die abstrakten Strukturuntersuchungen im Vordergrund standen.

Heute sind sie ganz selbstverständlich Teil des Œvres und man kann nachvollziehen, wie bei Sýkora jede Werkphase aus der vorangegangenen Beschäftigung mit Farben und Formen heraus entstanden ist. Seine an der Natur geschulte Vorliebe für Farben bekam durch die Anschauung der Bilder von Matisse eine klare Richtung und aus den Farbflecken wurden konkrete Formen: Die Farbe wurde praktisch gezähmt und ich würde sagen: rationalisiert. Die ersten Bilder dieser Phase sind noch Kompositionen in einem konventionellen Sinn, mit einzelnen Formen und Farben. Aber Sýkora begriff schnell, dass er diese Formen miteinander in Verbindung setzen musste. Seine künstlerische Vitalität äußerte sich in der Farbgebung, die ihm aber ebenso eigene Rationalität in der Verknüpfung. Die Verbindung, oder sagen wir besser, das Spannungsverhältnis zwischen Vitalität und Rationalität, wird das gesamte Künstlerleben des Malers beherrschen, wobei es immer wieder zu Schwerpunktphasen kommt, die Bilder also rationaler – wenn man so will konstruierter – oder expressiver ausfallen.

Als wir uns kennen lernten herrschte die Suche nach Bildstrukturen vor, die ihrer Methode zufolge den Künstler in den Kreis der Konstruktivisten in Prag einordnete. Es existiert ein schönes Foto aus dem Jahre 1971, aufgenommen in der Benedikt-Rejt-Galerie in Louny. Es zeigt Sýkora mit den Kollegen Karel Malich und Hugo Demartini. Sie alle waren an der Ausstellung „Konstruktive Tendenzen aus der Tschechoslowakei“ 1967 beteiligt gewesen und heute muss ich sagen: Sie alle drei waren eigentlich keine Konstruktivisten im engeren Sinne, auch wenn sie während dieser Zeit als solche rezipiert wurden (und dem auch nicht widersprochen haben).

Sýkora suchte damals schon mehrere Jahre nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten beim Bildaufbau: Er stellte Regeln für die Arten der Verknüpfung der einzelnen Elemente der Strukturbilder auf und lud einen Mathematiker, der zu jener Zeit mit dem Computer arbeitete, zur Zusammenarbeit ein. Diese Computerprogramme waren so einfach, dass sie heute meinen 16-jährigen Enkel zum Lachen bringen würden, „Kinderkram“, wäre sein Kommentar.

Zdeněk Sýkora – System und Kraft der Linie, Emil Schumacher Museum in Hagen, Foto Archiv LZS

Tatsächlich ging es auch damals nicht darum, ein Computerprogramm zu entwerfen, das – wie bei den genuinen Computerkünstlern – ein Kunstwerk komplett nach Maßgabe des Programms generiert. Sýkora wollte sich lediglich die schlichte Arbeit der Verknüpfung der einzelnen Elemente nach allerdings festgelegten Regeln erleichtern. Als wir einmal darüber sprachen, wie man ihn gegen die damals sehr en vogue befindlichen Computergrafiker abgrenzen könnte, sagte er: „Ich benutze den Computer, wie Leonardo Zirkel und Lineal benutzt hat, als Hilfsmittel, das aber keinen direkten Einfluss auf die Kunst hat.“  Er hatte also nichts mit dem „Mainstream“ der Computerkunst zu tun. Es ist nicht verwunderlich, dass Sýkora mit Morellet später befreundet war, ebenfalls ein Künstler, der zwar rationale Kriterien für seine Kunst reklamiert, aber sich nie von anonymen Computerprogrammen abhängig gemacht hat.

Wenn man die Entwicklung der Linienbilder aus den Strukturarbeiten im Einzelnen verfolgt, so wird wiederum deutlich, wie sich eins aus dem anderen ergeben hat. Bei einer Vergrößerung einzelner Elemente bestimmter Strukturbilder, zumal jener mit runden Elementbegrenzungen, entdeckte Sýkora ihre Grenzlinien als autonome Linien, die er schließlich von ihren „Körpern“, also den alten Elementen, isolierte und an sich zu betrachten begann.

Auch hier stellt sich für ihn sehr schnell das Problem, wie man die unendlichen Möglichkeiten der Linien bändigen könnte, wie sie also in ein beherrschbares System integriert werden könnten. Es war nun nicht mehr ein struktureller Aufbau aus einigen wenigen, sich wiederholenden Elementen.

Die Linien waren visuell attraktiv, ästhetisch vielfältiger als die Strukturbilder, aber ihr Aufbau viel schwerer einem rationalen Programm zu unterwerfen. Schließlich kreuzten sich die Linien, bildeten Schwerpunkte und endeten oft unmotiviert irgendwo auf der Bildfläche. Hier hätte sich natürlich erneut der Computer angeboten, der allerdings nun eine sehr viel komplexere Aufgabe zu bewältigen hatte. Denn der Aufbau dieser Linienbilder war wegen der frei schwebenden, aneinander nicht angrenzenden und damit gebundenen Platzierungen viel schwieriger und komplexer. Sýkora erkannte, dass ihn die mathematische Modellierung dieser Bilder nicht wirklich weiterbrachte und er verabschiedete sich praktisch von der Idee eines „Programms“ und suchte nach eigenen Möglichkeiten, vor allem den Zufall als Gestaltungsmerkmal einzubeziehen. Sein System arbeitete er nach und nach weiter aus und er begann, für alle Parameter der Linien (ihre Farbe, Richtung, Breite usw.) das Zufallsprinzip zu verwenden – die Endgestalt jedes Bildes war also auch für ihn eine Überraschung. Der Computer „produzierte“ diesmal lediglich Reihen von Zufallszahlen, die in dieses System Sýkoras implementiert wurden.

Wenn man sich ein wenig mit solchen Computerprogrammen auskennt, wird man schnell feststellen, dass es sich auch bei Sýkoras Strukturbildern keineswegs um ein Programm zur finalen Herstellung eines Kunstwerkes handelt, wie etwa Max Bense es in den sechziger Jahren propagiert hat. Vielmehr hat Sýkora bei jedem Bild dessen Anmutung, wenn sie so wollen, dessen ästhetische Struktur, im Kopf. Das Bild, also das Kunstwerk, entstand in jedem Fall ausschließlich im Kopf des Künstlers. Und bei den Linienbildern gilt dies umso mehr. Einmal durfte ich die endgültige Fertigstellung eines seiner kompliziertesten Bilder im Atelier miterleben. Es hängt heute im MUMOK in Wien und war einmal als Plakat an der Außenwand zu sehen, größer im Format als das Original: ein absoluter Eyecatcher. Ich konnte es nicht fassen, dass die für mich nahezu unmöglich zu entschlüsselnde Struktur von dem Maler vorgedacht worden war. „Hast du da nicht ein wenig gemogelt, hilft dir der Computer dabei nicht?“, fragte ich ihn, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er eine solche Struktur in seinem Kopf ästhetisch vorformuliert hatte. Zdeněk gefiel die Frage und er lachte.  „So schlau und gut ist ein Computer nicht, dass er meinen Kopf ersetzen könnte“, antwortete er.

Immer, wenn ich Zdeněk und Lenka in Louny besucht habe, saßen wir in ihrem Atelier mit dem Panoramafenster, das den Blick auf die von ihm so geliebte Landschaft freigab. Seine große Liebe zur Landschaft und zur Landschaftsmalerei im Hinterkopf habe ich ihn einmal gefragt: „Was siehst du eigentlich, wenn du aus dem Fenster schaust?“ Seine Antwort war überraschend. Er sagte: „Weißt du, ich beneide Cezanne. Er konnte malen, was er gesehen hat, natürlich verändert und zu Kunst aufgewertet. Aber das kann man heute nicht mehr. Ich muss malen, was ich fühle, wenn ich diese Landschaft sehe, und dieses Gefühl muss auch in den abstrakten Bildern irgendwie zum Ausdruck kommen.“

Es ist diese optisch-ästhetische Bodenhaftung, die Sýkora sich sein Leben lang bewahrt hat. Deshalb ist es auch vollkommen richtig, dass er irgendwann (erst sehr spät übrigens) auch seine Landschafts- und Gartenbilder zusammen mit den abstrakten Struktur- und Linienbildern ausgestellt hat. Es sind nicht die Computerprogramme, die diesen Maler und seine Kunst auszeichnen, sondern seine profunde Fähigkeit, das optisch auszudrücken, was er fühlt, wenn er sieht. Die – übrigens oft neidischen – Kollegen in Prag, die ihn mit dem Hinweis auf seine Landschaftsmalerei kritisieren wollten, haben sich schwer geirrt und das Wesentliche dieser Kunst verfehlt: die Verbindung einer emotional gefühlten, weit zurückreichenden ästhetischen Vorstellung mit einer zeitgemäßen Rationalität. Insofern ist Zdeněk Sýkora ein hochmoderner, zeitgenössischer Künstler, der tief in der Tradition der europäischen Kunst verwurzelt war.

Zdeněk Sýkora – System und Kraft der Linie, Emil Schumacher Museum in Hagen, Foto Archiv LZS

Die Linienbilder sind kein Computerprogramm

Redaktionell überarbeitete Fassung der Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Zdeněk Sýkora – System und Kraft der Linie“ am 30. August 2015 im Emil Schumacher Museum Hagen.

Autor: Hans-Peter Riese, 2015
In: Zdeněk Sýkora Linien, Přátelé Zdeňka Sýkory, 2015